Kann man Gesundheit zu wichtig nehmen?
Immer mehr Menschen beschäftigen sich mit ihrer Gesundheit, tragen Fitnesstracker, ernähren sich bewusst, meditieren oder treiben Sport.
Das Richtige essen, für den Marathon trainieren, den Schlaf überwachen: Was bedeutet es, in einer Gesellschaft zu leben, in der Gesundheit zum Diktat wird? Ein Gespräch mit dem Soziologen Friedrich Schorb und Inga Rahmsdorf
Sich mit seiner Gesundheit zu beschäftigen sei nicht per se schlecht.
Es gäbe aber zunehmend einen gesellschaftlichen Druck, dass man gesund leben solle. Wobei gesund nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit verstanden würde. Die Erwartungshaltung, sportlich, schlank und fit sein zu müssen, führe noch stärker zu einer Herabwürdigung derjenigen, die das aufgrund ihrer Lebensumstände oder aus individuellen Gründen nicht erfüllen könnten oder wollten. Gesundheit sei heute stärker als früher zum Statussymbol und Abgrenzungsmerkmal geworden.
Je höher man z.B. auf der Karriereleiter steige, umso mehr würde heute erwartet, dass man auch körperlich überlegen sei. Bis in die 1970er Jahre war das Klischee eines Managers ein eher rundlicher Mann mit Zigarre und Cognacglas in der Hand. Heute sei es das eines Durchtrainierten, der Marathon läuft. Das heißt: Manager sind jetzt nicht nur von ihrer Durchsetzungskraft und vielleicht auch von ihrer Intelligenz her ihren Untergebenen überlegen, sondern auch körperlich. So würde Gesundheit zur Voraussetzung für gesellschaftliche Erfolge in Bereichen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen hätte. Wer Profisport betreibt, muss natürlich fit sein. Aber für eine Führungskraft sind die Anforderungen an einen Job andere, als Marathon zu laufen.
Die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung erachtet Friedrich Schorb für problematisch, weil damit bestimmte Botschaften transportiert und auch öffentlich inszeniert würden: das Bild eines Übermenschen, eines Superhelden. Das würde ihnen noch mehr Macht verleihen und böte eine Rechtfertigung dafür, dass einem das, was man besitzt, auch zusteht. Und dass man sich noch mehr vom Kuchen abschneiden dürfe. Gleichzeitig würde damit auch suggeriert: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und für sich selbst verantwortlich.
Healthismus heißt, dass Gesundheit nicht mehr Mittel zum Zweck ist, um ein erfülltes Leben führen zu können, sondern zum Selbstzweck wird, zu einer Belohnung für vorbildliches Verhalten. Krankheit hingegen wird zum Symbol des Scheiterns. Wer sich richtig ernährt, nicht raucht, sich genug bewegt, ausreichend schläft, Stress vermeidet, der bekommt nach dieser Logik keinen Schlaganfall und keinen Krebs. Wer dennoch krank wird, muss etwas falsch gemacht haben.
Das könnte die Solidargemeinschaft gefährden, so Herr Schorb, weil es zum Beispiel die Frage aufwerfe: Warum sollen alle die gleichen Krankenkassenbeiträge zahlen, wenn die Kranken selbst schuld sind?
Natürlich sei es gut, wenn Menschen sich körperlich bewegen und ein bisschen auf ihre Ernährung achten, sagt Friedrich Schorb. Aber er halte die Illusion für gefährlich, Gesundheit individuell lösen zu können, in einem sozialdarwinistischen Sinne. Sicher könne man etwas für seine Gesundheit tun, aber es gäbe viele strukturelle Einflussfaktoren, die sich nicht durch individuelle Verhaltensänderungen aus der Welt schaffen lassen könnten. Z.B., funktioniert die Kinderbetreuung und gibt es für alle einen bezahlbaren Wohnungsmarkt, einen bezahlbaren öffentlichen Nahverkehr, ausreichend sozialstaatliche Leistungen und auskömmliche Löhne?
Daneben sei Essen ein Bereich, der sehr stark mit dem Nimbus „sich etwas Gönnen“ verwoben sei.
Wenn Gesundheitsförderung wirklich wirksam werden solle, dürfe sie sich nicht nur darauf beschränken, vor Gesundheitsgefahren zu warnen und Bewältigungsstrategien zu lehren. Sie müsse auch Menschen dazu befähigen, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Um das zu erreichen, müssten sich Menschen organisieren und sich gemeinsam für eine gesundheitsförderliche Umwelt starkmachen.
Die hier von Herrn Schorb dargestellte Sicht der Dinge lässt meines Erachtens einige wesentliche Aspekte außer Betracht. Das allgemeine Wissen um die Auswirkungen einer exzessiven Lebensführung mit Übergewicht, übermäßigem Alkohol- und Fleischkonsum, Bewegungsmangel, Auswirkungen der Umweltverschmutzung usw., auf unsere Gesundheit und Lebensdauer ist in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen und hat selbstverständlich Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Diese Maßlosigkeit ist ein Wahrzeichen der westlichen Überflussgesellschaft und maßgeblich für fast alle Zivilisationskrankheiten.
Selbstverständlich fällt es einigen Menschen schwerer als anderen der Verführung der Konsumgesellschaft zu widerstehen und sicherlich gibt es viele systembedingte Gründe, die Verhaltensmuster verstärken können. Nicht ohne Grund ist Übergewicht in den bildungsfernen und ärmeren Gesellschaftsschichten in wesentlich höherem Maß vertreten als in der übrigen Gesellschaft.
Man kann sich Tatsachen nicht wegwünschen, auch wenn es noch so gelegen kommt. Daher muss man sich damit auseinandersetzen, dass dem informierten, maßvollen und sportlichen Menschen sehr augenscheinlich alle diejenigen auffallen, die sich diesen Erkenntnissen entziehen und weiter ihrem ungesunden Lebensstil nachgehen. Sicherlich landen etliche Menschen zu Unrecht in eine „Negativ-Schublade“, mit allen seinen negativen Folgen für diese Person und ihr Umfeld.
Mir fällt dabei ein Satz ein, den ich einmal in einer psychologischen Abhandlung gelesen habe und der hier im übertragenen Sinne gilt: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.“ … und auch ein Stigma!
Um wie viel mehr gilt das für das äußere Erscheinungsbild eines Menschen. Körperfülle, Kleidung, Ästhetik, Sprachgewohnheiten, Tattoos usw. bestimmen den ersten Eindruck von einem Menschen, ehe man sich dessen persönlicher Eigenschaften überhaupt bewusst werden kann. Man nennt das den Primacy.Effekt, welcher unsere Denk- und Handlungsweise stark beeinflusst.
(https://sciodoo.de/primacy-effekt-psychologie-warum-zaehlt-der-erste-eindruck/)
Es stellt sich also die Frage, was der Einzelne, die Gesellschaft und die Politik besser machen könnte, um hier entgegenzuwirken, denn es ist unbestreitbar, dass die bisherigen Vorgehensweisen eklatant versagt haben. Adipositas nimmt in der westlichen Welt pandemische Ausmaße an. Die Zahl der Menschen mit starkem Übergewicht ist rasant gestiegen. Weltweit waren nach einer Studie 2022 mehr als eine Milliarde Menschen betroffen, bei einer Weltbevölkerung von rund acht Milliarden Menschen. Der Anteil der stark Übergewichtigen an der Bevölkerung habe sich seit 1990 mehr als verdoppelt, unter Heranwachsenden zwischen 5 und 19 Jahren sogar vervierfacht, berichtete die Fachzeitschrift „The Lancet“. Tendenz steigend!
Sicherlich ist zunächst einmal jeder Einzelne aufgerufen sich zu informieren und seine Verhaltensweisen anzupassen. Schließlich ist es seine eigene Lebensqualität, seine Gesundheit und seine sinkende Lebenserwartung. Aber nicht nur das, er dient gewollt oder ungewollt als Vorbild in seiner Peergroup, seiner Familie und vor allem gibt er Verhaltensmuster an die nächste Generation genetisch oder auch epigenetisch weiter.
(https://www.planet-wissen.de/natur/forschung/epigenetik/index.html)
Dabei muss man natürlich auch hier Maß halten. Einerseits ist Hunger ein sehr natürlicher Zustand, dem wir uns zwar entwöhnt haben, der aber auszuhalten und zum Teil sogar sehr gesund ist.
(https://www.derstandard.at/story/2000036571708/warum-hunger-gesund-ist)
Man sollte sich von den heute allgegenwärtig Idolen befreien, sie nicht im Übermaß über die Sozialen Medien in das Privatleben wirken lassen und sich vielleicht etwas weniger vergleichen und überwachen: weder von Influencern und Instagram-Buddys noch von der eigenen Fitness-App oder Smartwatch. Dann wäre schon etwas gewonnen.
Bewegung ist ein vernachlässigtes Grundbedürfnis des Homo Sapiens, der eigentlich nicht für die Couch, sondern für den Dauerlauf konzipiert worden ist.
(https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/wissen/gesuender-leben-mit-bewegung/warum-ist-bewegung-wichtig)
Selbstverständlich ist es nicht immer einfach seine Verhaltensweisen zu ändern, aber es ist sinnvoll und notwendig.
(https://gedankenwelt.de/warum-faellt-es-mir-so-schwer-mich-zu-aendern/)
… und es gibt jede Menge Hilfen.
(https://www.aok.de/pk/magazin/wohlbefinden/motivation/gewohnheiten-aendern-tipps-fuer-neue-handlungsmuster/)
Last, but not least, muss man zu sich selber stehen. Sicherlich oft leichter gesagt als getan.
Die Gesellschaft hat ebenfalls einen großen Anteil daran, welche Chancen ein Mensch hat, sich adäquat zu verhalten.
Mittlerweile weiß man, dass Ausgrenzung und Diffamierung Menschen mit problematischer Lebensführung nicht zuträglich und schon gar nicht hilfreich für eine Änderung derer Verhaltensweisen sind.
Das gilt um so mehr, als es Lebenssituationen gibt, in denen Verhaltensänderungen in besonderem Maße schwer fallen. Abgesehen von den Menschen mit einer ungünstigen (epi-)genetischen Ausstattung, gibt es etliche soziale Gesichtspunkte, die hier relevant sein können. Insbeosndere Armut, Alleinerziehend, Gruppenverhalten und sonstige schwierigen Lebenslagen wären hier zu nennen.
Eine ganz besondere Rolle kommt den Medien zu, die durch unausgewogene Berichterstattung oftmals der Diffamierung Vorschub leisten oder auch umgekehrt ungesunde Lebensführungen als erstrebenswert herausstellen. Der Überflutung durch Werbung ist hier ganz besonders zu nennen.
Es wird überall der Genuss hoch verarbeiteter Lebensmittel angepriesen, die meistens überzuckert, viel zu fett und mit einer einer Zutatenliste recht ungesunder Nährstoffe daher kommen. Es werden bereits die jüngsten Konsumenten angesprochen und „angefixt“, um später diese Verhaltensweisen zum alleinigen Wohl der Hersteller weiter auszuleben.
(https://www.ndr.de/ratgeber/gesundheit/Studie-zeigt-Zucker-und-Fette-veraendern-das-Gehirn,zucker684.html)
Nicht zuletzt muss auch der Gesetzgeber aktiv werden. Menschen müssen die Mittel haben sich gesund zu ernähren. Ein probater Weg wäre, ungesunde Lebensmittel mit einem höheren Steuersatz zu belegen als gesunde. Solange Hähnchenfleisch billiger als Gemüse ist, sind einige Menschen nicht in der Lage den Gesundheitsratschlägen Folge zu leisten.
Bildung ist auch hier der Schlüssel zum Erfolg. In Kindergärten, Jugendeinrichtungen und Schulen muss das Thema „Gesunde Lebensführung“ stärker thematisiert und gelebt werden. Die Beköstigung in diesen Einrichtungen muss wohl ausgewogen sein. Hier zu sparen ist Sparen am falschen Platz, weil die gesellschaftlichen Kosten diese später bei Weitem in den Schatten stellen (derzeit ca. 2,5 Billionen Dollar, Tendenz stark steigend).
(https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1422678/umfrage/volkswirtschaftliche-kosten-durch-uebergewicht-und-adipositas-weltweit/)
Es darf nicht weiter verpönt sein, Menschen durch Nudging zu einer gesunden Lebensweise zu „verführen“.
Ein weiterer Aspekt ist die Umweltzerstörung durch unsere ausufernde Nahrungsaufnahme. Die Landwirtschaft und nicht zuletzt die Fleischproduktion sind für einen immensen Anteil der Klimakatastrophe, der Umweltverschmutzung und des Artensterbens verantwortlich. Jedes Lebensmittel, dass nicht erstellt werden muss ist hilfreich.
(https://www.umweltbundesamt.de/themen/landwirtschaft/umweltbelastungen-der-landwirtschaft)
Die Lebensmittelverschwendung ist ein weiteres Übel. Unglaubliche Mengen genießbarer Lebensmittel werden täglich ungenutzt entsorgt, während weite Teile der Menschheit (2024 ca. 735 Millionen Menschen) hungern.
( https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/lebensmittelverschwendung/lebensmittelverschwendung_node.html,
https://unric.org/de/welternaehrungsbericht13072023/)
Es ist höchste Zeit, dass etwas passiert. Und nein, man kann die (Volks-)Gesundheit gar nicht ernst genug nehmen. Wie überall gilt aber auch hier, dass die Menge das Gift macht.
Jeder ist für sich selbst und sein Leben verantwortlich. Man beeinflusst durch seine eigenen Verhaltensweisen aber nicht nur seine eigene Gesundheit und sein Wohlbefinden, sondern auch die seiner Mitmenschen und vor allem die seiner Kinder nachhaltig. Darüber hinaus hat der ungezügelte Konsum und die Verschwendung unmittelbaren Einfluss auf die Umwelt und die Zerstörung der Habitate von Menschen, Tieren und Pflanzen.
Wir müssen den Menschen Hilfestellung geben, um sich gesund verhalten zu können, denn etliche Mitmenschen sind aus eigener Kraft nicht in der Lage ihr Verhalten anzupassen! Dazu sind alle relevante Gruppen aufgerufen, inklusive Wirtschaft, Medien und Politik. Diskriminierungen sind dabei sehr kontraproduktiv.
Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass die Beurteilung eines Mitmenschen nach dem ersten Eindruck tief in unseren Verhaltensmustern verankert ist. Man kann das nicht wegwünschen, aber man kann damit bewusst umgehen und seine spontanen Einschätzungen hinterfragen, einordnen und neu bewerten, denn „Die Würde des Menschen ist unantastbar“!
Weitere Quellen:
Psychologie heute 02/2025, Seite 46 – Healthismus – und
(https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=260ac523-c08d-e3e4-31e9-df41f8ed6761&groupId=252038)
