Hunger

„Meat made us human“ – Ein fataler Irrtum?

(Quelle: Spektrum der Wissenschaft Kompakt, 49/23)
Heute ist jeder Deutsche im Durchschnitt 1.100 Tiere im Laufe seines Lebens. Das sind dann ca. 1.000 Hühner, 45 Schweine und 5 Rinder. Bei ca. 80 Millionen Deutschen mag man sich den „Berg“ Schlachtvieh und dessen elendes Leben und Sterben kaum vorstellen. Was da bei acht Milliarden Menschen weltweit passiert, sprengt jedes Vorstellungsvermögen.

Viele westlich geprägten Fleischliebhaber stützen sich, bei ihrer moralisch-ethischen Rechtfertigung des zum Teil exorbitanten XXL-Fleischkonsums, auf bisherige wissenschaftliche Untersuchungen, nach denen sich die Hominiden erst zu dem modernen Menschen entwickeln konnte, weil er Fleisch als Nahrung entdeckt hat. Die Nährstoffdichte des Fleisches, die soziokulturellen Errungenschaften durch die Koordinierung der Verhaltensweisen vor, bei und nach der Jagd und die damit verbundene Entwicklung der Waffen, der Sprache und andere kultureller Errungenschaften waren demnach treibende Kräfte des Hirnwachstums und damit der Menschwerdung. Vegetarismus wäre demnach unnatürlich und unter Umständen sogar schädlich.
Hält diese Argumentationskette modernen Forschungsergebnissen immer noch stand oder müssen wir umdenken?

Das Gehirn des modernen Menschen hat einen schier unstillbaren Hunger. Obwohl es nur wenige Prozent der Körpermasse ausmacht, beansprucht es ca. 20 % der zugeführten Energie für sich. Um das zur Verfügung stellen zu können, bedarf es hochenergetischer Nahrungsmittel. Sonst müssten auch wir den halben Tag den Kopf in die Wiese stecken und anschließend stundenlang widerkäuen, wie es unsere Fleischproduzenten auch tun. So kommt man nicht auf den Mond!

Dei Evolution des Menschen schreitet stetig voran und mit ihr auch die Fähigkeit die Nahrungsmittelaufnahme und -produktion zu optimieren. Einer der wichtigsten Entwicklungsschritte war aber die Entwicklung der Fähigkeit, aus nahezu allen pflanzlichen und tierischen Ressourcen das zu extrahieren, was er zum Überleben braucht. Das hat ihn zum universellen Überlebenskünstler gemacht, hat ihn Eiszeiten, Dürreperioden, Hunger und Durst überstehen lassen und dazu geführt, dass wir im Laufe der Zeit nahezu alle Habitate besetzt oder uns zumindest nutzbar gemacht haben.
Heute enthalten unsere Ackerfrüchte ein Vielfaches der Nährstoffe, die sie zur Zeit der Frühmenschen hatten und wir haben gelernt durch Zerstückeln und vor allem Kochen/Grillen/Braten/Backen die in den Pflanzen enthaltenen Nährstoffe für uns höchst optimal nutzbar zu machen. Das führte z.B. dazu, dass sich der Nahrungsmittelbedarf für die Nahrungsbeschaffung und Verdauungsarbeit und somit die Größe des Verdauungstraktes verringern konnte. Diese gewonnene Energie konnte nun dem Gehirn zur Verfügung gestellt werden.

Im letzten Jahrhundert haben sich die zuvor Jahrtausende vorherrschenden Verhältnisse umgekehrt. Die vormals immer wiederkehrenden desaströsen Hungersnöten und Seuchen, die ganze Landstriche entvölkert haben, sind in Deutschland und weiten Teilen der westlichen Welt verschwunden und haben den nicht viel minder gefährlichen Auswüchsen des Übermaßes Platz gemacht.
Bevölkerungswachstum, die weit verbreitete Adipositas und die durch die Nahrungsmittelproduktion zerstörten natürlichen Ressourcen zu Land, Wasser und in der Luft entziehen uns unsere Lebensgrundlage und schädigen unsere Gesundheit nachhaltig!
Die Produktion tierischer Nahrungsmittel beansprucht ca. 77 % der weltweiten Ackerflächen, decken aber nur zu 18 % den weltweiten Nahrungsbedarf.
Selbst wenn es eine evolutionären Zusammenhang zwischen Menschwerdung und Fleischkonsum gäbe, hätten wir somit Gründe genug um uns davon zu emanzipieren!

Aber es gibt noch andere Gründe für ein Umdenken und für eine Neuausrichtung unserer Ernährung auf pflanzliche Produkte.

Der Grundgedanke des „Tierwohls“ ist da an erster Stelle zu nennen. Wie ich an anderer Stelle schon mehrfach dargelegt habe, ist es in der Wissenschaft mittlerweile unstrittig, dass etliche Tierarten Leid psychisch und physisch empfinden, dass sie zu intelligenten Handlungen fähig sind und somit schützenswertes Leben darstellen. Ein Team der Universität Zürich konnte im Tierreich, trotz umfangreicher Analysen, keinerlei Hinweise finden, das die die These „Meat made us human“ belegen würde. Ähnliche Entwicklungen wie beim Menschen, Größe des Verdauungstraktes vs. Größe des Gehirns, sind bei anderen Tieren nicht erkennbar.
Eine Untersuchung und Sichtung vorangegangener forschungsergebnisse aus 2022, an der George-Washington-Universität, an der sich auch Historiker und Paläontologen beteiligten, bestätigte zwar, dass der Fleischkonsum mit Erscheinen des homo erectus in viel höherem Maße nachgewiesen wurde als bei vorherigen homini, man musste aber eingestehen, dass das wohl eher dem intensiveren Suchen nach diesen Nachweisen ab homo erectus geschuldet sei.
Die Weite Verbreitung der These „Meat made us human“ sei wohl eher dem eingängigen Gedankenmuster zu verdanken als eindeutiger wissenschaftlicher Befunde!

Der Harvard-Primatologe Richard Wrangham drehte die Argumentation sogar um und stellte die These auf, dass nicht das Fleisch essen, sondern das Stampfen und Kochen (also quasi einem Vorverdauen), egal ob tierischer oder pflanzlicher Nahrungsmittel, den entscheidenden evolutionären Vorteil erbrachte. Dadurch könne der Mensch leichter und schneller Energie aufnehmen und dem Hirn zur Verfügung stellen.
Er belegte diese These durch Tierversuche. Mäuse, die gekochte Nahrung zugeführt bekommen haben, nahmen zwischen 15 % und 40 % mehr an Gewicht zu als die Vergleichsgruppe mit roher Nahrung.
Die Beweisführung, dass das auf den Menschen der Vorzeit ebenso zutraf, ist bisher allerdings auf Grund fehlender Artefakte nicht gelungen.

Wie auch immer! Fest steht, dass wir in der westlich geprägten Welt zu viel Energie mit unserer Nahrung aufnehmen, die Nahrungsmittelproduktion unseren Planeten an den Rand des Machbaren bringt und auf anderen Kontinenten Menschen hungern. Schwellenländer verändern zunehmend ihre Ernährungsgewohnheiten hin zu der westlichen und beschleunigen den Umweltverbrauch für die Nahrungsmittelproduktion nochmals.
Ein Umdenken und Umschwenken auf eine mehr vegetarisch oder sogar vegan ausgelegte Ernährung ist dringend geboten.
Sich vegan ernährende Spitzensportler und viele ernährungsbewusste Menschen beweisen uns, das in der westlichen Welt niemand unter Mangelernährung leiden muss, der seinen Fleischkonsum einschränkt. im Gegenteil, er tut sich und der Umwelt nur Gutes! Wie so oft sind extreme Positionen meist nicht zielführend.

Wir müssen nicht alle Veganer werden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn wir etwas veganer würden!
Übermäßiger Fleischkonsum ist heute vor allem eines, eine von Menschen gemachte ökologische und ethische Katastrophe!

Hinweis: auf Quellen aus dem Artikel
Spektrum der Wissenschaft Kompakt, 49/23

Der Titel des Artikels ist:
Der Mensch, ein geborener Fleischesser?
Hier werden die Forscher und Institute dezidiert aufgeführt.

Anna Navarrete, Uni Zürich, 2011 veröffentlich im Fachmagazin „Nature“.
2022 Andrew Barr, Georg-Washington-Universität und Briana Probiner, Smithsonien Museum of Natural History, veröffentlicht in der Fachzeitschrift PNAS.
Forschungsergebnisse des Harvard Primatologen Richard Wragham.
Forschungsergebnisse von Lutz Kindler vom Leibnitz-Zentrum für Archäologie.