Politik

In der Falle der Autokraten

(Quelle: u.a. Winfried Böttcher, emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der RWTH Aachen und Kommentar von Eva Qadbeck, KStA vom 07.01.2025)

Wir befinden uns im Übergang einer Krisenzeit, in der zwei unterschiedliche Lebensmodelle aufeinandertreffen: Hier die liberale Demokratie westlichen Musters, dort die Autokratie. Wie es scheint, ist die Demokratie in der Defensive, die Autokratie in der Offensive. Immer mehr Menschen glauben, die Demokratie zerstöre sich selbst, weil sie unfähig ist, die versprochene Freiheit für viele zu garantieren, anstatt nur für wenige. Das verführt sie den radikalen Versprechungen der Populisten Glauben zu schenken, dass ausgerechnet diese für die vielen ungelösten Probleme unserer Zeit einfache Lösungen hätten. Sie hoffen, höchst wahrscheinlich irrigerweise, nach dem Systemwechsel endlich auch mal zu den Gewinnern zu gehören.

Wir müssen die Systemfrage annehmen, die der liberalen Demokratie von den Autokraten aufgezwungen wird, denn ausnahmslos alle etablierten Parteien haben es in den letzten Legislaturperioden nicht verstanden den Wählerauftrag so umzusetzen, dass sie breite Zustimmung bekommen hätten. Das hat den Populisten kräftig in die Hände gespielt.

Die Demokraten müssen den teils unwahren Versprechungen und permanenten Lügen der jetzt erstarkten Populisten entschieden entgegentreten. Sie müssen diese in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion als solche entlarven und durch nachvollziehbare und glaubhafte Zahlen, Daten, Fakten ersetzen und Alternativen anbieten. Dieses muss auch weiterhin auf der freiheitlich demokratischen Grundordnung beruhen, aber offen und ehrlich die bestehenden Mängel benennen und sich über ideologische und Parteigrenzen hinaus veränderungsoffen zeigen. Es muss ein Narrativ sein, das den Menschen Hoffnung macht und deren Ängste aufnimmt, ohne von einem bloßen quantitativen Wachstumsbegriff auszugehen, sondern vielmehr qualitatives Wachstum in den Mittelpunkt des Fortschrittsdenkens stellt.

Besonderes Augenmerk muss dabei darauf gerichtet werden, dass diese Versprechungen für die Wähler nachvollziehbar und glaubhaft sind. Darüber hinaus müssen sie zukunftsorientiert, umsetzbar und finanzierbar sein. Sie müssen für die breite Masse bei allen Zumutungen auch eine gute Perspektive bieten. Gleichzeitig muss den Interessen der Wirtschaft Rechnung getragen werden, denn die Kosten für den Systemwechsel, den Umweltschutz, die Abwendung der Klimakatastrophe und für die anstehenden Umverteilungen müssen aus Steuermitteln erwirtschaftet werden. Anderenfalls würde man die gewaltigen Kosten dieser drängenden Aufgaben ausschließlich auf zukünftigen Generationen aufbürden. Die jetzige verantwortliche Generation muss in ihrem politischen Handeln jeweils die Ansprüche der nachfolgenden Generation berücksichtigen. Die heutige Generation darf keinesfalls ungehemmt konsumieren und Ressourcen verbrauchen. Wie will man gegenüber jungen Menschen noch vertreten, dass es mehr als 200 Jahre dauern würde, die Staatsschulden von 2.500 Milliarden Euro abzubauen – bei einer monatlichen Tilgung von einer Milliarde Euro und vorausgesetzt, es kämen keine neuen Schulden hinzu? Oder wie will man es länger rechtfertigen, dass die weltweite Umweltzerstörung nicht nur die pflanzlichen und tierischen Arten vernichtet, sondern den künftigen Lebensraum des Menschen selbst?

Unmittelbar damit hängt ein weiteres wichtiges Element zusammen, dass die Populisten geschickt instrumentalisieren: die Schließung der empfundenen Gerechtigkeitslücke. Viele Menschen, die sich von der Politik abgehängt fühlen, haben den Eindruck, es gehe in unserer Gesellschaft nicht gerecht zu und suchen eine drastische Veränderung. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die Zuwanderung von Flüchtlingen. Die Gerechtigkeitslücke zeigt sich besonders auf den Feldern Bildung, Verteilung, Generationen. 

Eine weitere äußerst wichtige Aufgabe der Politik ist die Ausschöpfung der individuellen Potenziale. Nur durch Bildung wird Teilhabe in all ihren Schattierungen erst möglich. Hierbei ist die Förderung von Hilfsbedürftigen genauso wichtig, wie die Beachtung der Bedürfnisse Hochbegabter. Aus humanitärer, aber auch aus rein ökonomischer Sicht können wir uns das gar nicht mehr leisten. Wir sind darauf angewiesen, dass alle Mitbürger möglichst motiviert an dem Erfolg des demokratischen Systems mitwirken.  

„Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht.“ (John Rawls), denn wenn alle gleich behandelt werden, vergrößert dies die Ungleichheit der sowieso schon Benachteiligten. Nur Gleiche können gleich, Ungleiche müssen ungleich behandelt werden – mit dem Ziel einer Angleichung.
Mit anderen Worten: Benachteiligte müssen so lange bevorzugt werden, bis ihnen eine, an unserem gemeinsamen Kulturraum und deren Anforderungen angepasste, Lebensführung ermöglicht wird, deren Akzeptanz von ihnen erwartet werden kann.
Die Vermögenden müssen sich des Umstandes sehr bewusst werden, dass Sie nur dann die Vorzüge ihres Vermögens genießen können, wenn das System, aus dem sie dieses Vermögen geschöpft haben, auch von der breiten Masse mitgetragen wird. Sonst kommt es irgendwann zum Umsturz. Die Protagonisten für einen Systemwandel stehen in Deutschland, Europa und der ganzen Welt in den Startlöchern und warten auf den Augenblick, indem die Wähler den etablierten Parteien großflächig das Vertrauen entziehen, weil sie ihre Chancen nicht genutzt haben.

Dabei reicht es ganz bestimmt nicht mehr, ein System zu verteidigen, das den Status quo als Lösungsmodell anbietet. Wir brauchen Veränderungen, die unser Wertefundament stärken und zu mehr Freiheit für alle führen, den Anspruch aller auf menschliche Würde bekräftigen, die Solidarität stärken. Dann haben Verschwörungstheorien, die Falsches als neue Wahrheiten verkaufen wollen, keine Chance.

Zu Beginn des heißen Wahlkampfs in Deutschland muss der historische Moment für den rechtsradikalen FPÖ-Politiker Herbert Kickl zur Bildung einer Regierung in Österreich wie ein lauter Gongschlag klingen: Deutschland … aufwachen!
Sollte Kickl tatsächlichals Kanzler vereidigt werden, hätte mal wieder eine demokratische Mitte ihre jahrelange Abwehrschlacht gegen eine inzwischen radikalisierte rechtspopulistische Partei verloren. Eine Blaupause für Deutschland?
Mit Viktor Orbán in Ungarn, Giorgia Meloni in Italien und Robert Fico in der Slowakei wird Österreich also Mitglied eines wachsenden Clubs von Ländern innerhalb der Europäischen Union, die ihre Wahlsiege mit nationalistischen, anti-europäischen, fremdenfeindlichen, teils russlandfreundlichen Positionen eingefahren haben. Jedes weitere Land, das auf den Zusammenhalt der EU pfeift, ist ein Sargnagel für die Gemeinschaft und damit langfristig auch eine Gefährdung für Frieden und Wohlstand auf dem Kontinent.

Entzauberung durch Verantwortung? Österreich ist das beste Beispiel dafür, dass das nicht gelingt. Nach der Ibiza-Affäre, in dessen Zuge der damalige FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache als korrupt und demokratiefeindlich entlarvt wurde, musste auch der damalige Innenminister Herbert Kickl gehen. Nun kommt er mit noch mehr Macht zurück.

Die Wahlkämpfer in Deutschland können nicht daran vorbeischauen, dass die Bundesrepublik auf dem Weg ist zu österreichischen Verhältnissen: Das politische Klima ist gereizt, in Teilen vergiftet. Koalitionen werden insbesondere mit der Absicht geschmiedet, die AfD rauszuhalten. Dieser gemeinsame Nenner ist aber viel zu klein, um ein Land durch eine krisenhafte Zeit zu steuern. Es braucht eine gemeinsame Vorstellung, wie die Wirtschaft robuster, die Migration gesteuert und das Klima geschützt wird und welche Rolle Deutschland in der Welt spielen soll. Wir brauchen Verlässlichkeit und ein Minimum an Treue zu einmal gefundenen Kompromissen. Es braucht auch den Mut und die Stärke, unbequeme Reformen gemeinsam mit breiter Brust und über Ideologien und Parteigrenzen hinaus zu verteidigen. Je weniger die unterschiedlichen demokratischen Parteien von alldem aufbringen, desto näher rückt die politische Landschaft in Deutschland an seinen Nachbarn Österreich. Desto größer sind auch die Chancen der AfD, sich zu normalisieren und zu etablieren.

Die Aussichten sind nicht gut. Aktuell läuft der Bundestagswahlkampf an, wie die Ampel geendet ist: kleinmütig, unversöhnlich und konzeptionell wenig überzeugend. Die Weichen stellen sich auf ein Bündnis von Union und SPD, nachdem die CSU fast alle Türen zu den Grünen zugeschlagen hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass die SPD-Basis gegen eine Juniorrolle in einer Regierung unter Friedrich Merz meutern wird, darf man nicht unterschätzen. Und dann ist Deutschland ruckzuck bei österreichischen Verhältnissen.

Auf kommunaler Ebene ist die sogenannte Brandmauer, also die Abgrenzung der staatstragenden Parteien der demokratischen Mitte gegen die AfD, ohnehin auf Sand gebaut. Immer wieder gibt es Kooperationen zwischen der CDU (und auch anderen Parteien) mit der AfD. 

Die Österreicher haben es ähnlich versucht, die FPÖ von der ganzen Macht fernzuhalten. Mit Sebastian Kurz hatten sie sogar einen Bundeskanzler, der mit dem Etikett der konservativen Volkspartei viele Positionen der FPÖ übernommen hat. Aber auch diese Strategie war dauerhaft nicht tragfähig. Die Zeit drängt! In Deutschland haben wir nur noch wenige Wochen Zeit, die Wähler davon zu überzeugen, den autokratischen Volksverführern das Votum für eine Regierungsbildung oder -beteiligung zu verwehren.