Religionen … Fortführung_1

Die Rolle der Kirchen in der deutschen Politik, in Zeiten des Umbruchs

In einem Kommentar im Kölner Stadt-Anzeiger vom 10.03.2025 bemerkt der Professor für Moraltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn, Jochen Sautermeister, dass die politische Aufgabe der großen christlichen Gemeinschaften sich nicht im kritischen Gegenüber zur Regierung und zum Kanzler aus einer C-Partei erschöpfen sollte. Ein konstruktiver Schulterschluss von liberaler Demokratie und Kirche in Deutschland würde sowohl die liberale Demokratie als auch die Kirchen in ihrem gesellschaftlichen Auftrag stärken. Die Zeiten, in denen eine Zusammenarbeit zwischen Politik und Kirche selbstverständlich war, weil der größte Teil der Bevölkerung in der Kirche war und die meisten Politiker kirchlich sozialisiert waren, aber auch die Gesellschaft viel homogener war als heute, seien schon länger vorbei. 
Um diese Aussage richtig einordnen zu können, muss man wissen, dass in dieser Einrichtung die zukünftigen Priester, Religionslehrer und Pastoralreferenten der katholischen Kirche ausgebildet werden (1).

Wie so oft, muss in diesem Zusammenhang zwischen Ethik und Moral unterschieden werden. Leider wird in der öffentlichen Diskussion hier zu wenig oder sogar gar nicht unterschieden.
Ethik beschreibt philosophisch die Regularien, über die sich eine Gesellschaft definieren kann und betrachtet dabei auch die Diversität bei den Moralvorstellungen.
Die Moral hingegen beschreibt viel enger die tatsächliche Ausformung in der aktuell zu betrachtenden Hemisphäre (2). Darüber hinaus bringt sie die Wertung Gut und Böse ein.
Ethik ist somit ergebnisoffen, Moral dagegen parteiisch, da z.B. die kirchlichen Moralvorstellungen der Christen sich nicht mit denen der anderen Weltanschauungen decken. In der Tat gibt es hier sehr große Unterschiede. Dazu gehören z.B. der Bereich Abtreibung, Gleichstellung der Geschlechter, attestierter Suizid, Glauben statt Wissen usw.

CDU/CSU und SPD haben sich nur wenige Tage nach der Bundestagswahl auf das Vorhaben eines bis zu 900 Milliarden Euro schweren Sondervermögens verständigt. Zu begründen in den Versäumnissen sämtlicher Vorgängerregierungen der letzten Jahrzehnte und der sich momentan drehenden Weltlage. Es bedarf riesiger Anstrengungen in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung, Wirtschaft und Energie, Bürokratie, Migration, soziale Absicherung, Gesundheitssystem, Rente und Pflege. Die Koalitionäre brauchen für deren Umsetzung eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag und die Zustimmung des Bundesrates. Da diese erwartungsgemäß im neugewählten Bundestag auf Grund der fehlenden Mehrheit nicht umsetzbar sein wird, wird jetzt mit Hochdruck noch der alte Bundestag bemüht. Die Koalitionäre versuchen mit gegenseitigen Zugeständnissen und weiteren gegenüber den Grünen und ggf. auch den Linken sich diese zu sichern. BSW und AfD würden hier eine Zustimmung verweigern.
Sollte die neue Bundesregierung die anstehenden Probleme nicht lösen, sondern wieder im Koalitionsstreit verharren, wird das den Parteien am politischen Rand in die Hände spielen.
Wir dürfen davon ausgehen, dass die politische Mitte nur noch diese eine Chance hat zu beweisen, dass die Extremen unrecht haben und in ihre Schranken gewiesen werden können.

Alle gesellschaftlich relevanten Gruppen sind daher dringend aufgerufen sich an diesem Prozess aktiv zu beteiligen. Dazu gehören neben den Parteien, auch die Gewerkschaften, Verbände, Bürgervereinigungen, NGO‘s und und andere Gruppen, wie Vertreter der verschiedensten Weltanschauungen, inklusive der Kirchen.

Das sollte jetzt Anlass genug sein, auch den Einfluss der Kirchen auf die Politik zu überdenken. Die Kirchen repräsentieren nur noch eine Minderheit der deutschen Bevölkerung, haben aber im politischen Alltag immer noch sehr viel Einfluss. So z.B. durch das katholische Büro in Berlin, dass sich regelmäßig zum politischen Tagesgeschäft äußert und über alle Parteien gehör findet.

Die Kritik der Kirchen an der Migrationspolitik von CDU/CSU und die Zurückweisung durch deren Spitzenvertreter hat in der medialen Berichterstattung ein breites Echo gefunden. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit Genugtuung die Kritik der Kirchen gegen die Pläne der Union ins Feld geführt. Da die künftige Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach von einem CDU-Kanzler, Friedrich Merz, angeführt wird, ist die Versuchung ebenso groß wie nachvollziehbar, das Regierungshandeln regelmäßig auf seine „C“-Tauglichkeit zu befragen. 

Aber das kann nur Politgeplänkel sein. Viel wichtiger ist, dass die Ergebnisse der Regierungsarbeit zielführend sind und das nun zur Verfügung gestellte Geld auch nicht für Klientelpolitik und politisch motivierte Strohfeuer eingesetzt wird, sondern die oben aufgeführten Problembereiche nachhaltig auflösen. Wir müssen uns stets in Erinnerung rufen, dass diese Kredite unsere Nachkommen als schwere Hypothek belasten und deren politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Spielraum begrenzen.

Auch die Kirchen wären, wie jede andere gesellschaftlich relevante Gruppe, gut beraten, wenn sie ihre politische Aufgabe darin sähen, als kritisches Gegenüber zu Staat und Politik eine mahnende Haltung einzunehmen. Auch sie müssen ihr Gruppeninteresse hinter das allgemeingesellschaftliche stellen und den anstehenden Transformationsprozess aktiv fördern, denn es ist eine Herkulesaufgabe, bei der niemand zuschauen und sich in Einzelinteressen verlieren darf.

Sicherlich: Wenn die Staatsgewalt (Legislative, Exekutive und Judikative) die Würde von Menschen mit Füßen treten; wenn sie Menschen ausgrenzen und marginalisieren oder in prekären Situationen im Stich lassen; wenn Politik der Logik von Hass und Vergeltung, von Angst und Verzweiflung folgt; oder wenn sie die freiheitlichen demokratischen Grundwerte der Verfassung missachtet – dann sind insbesondere die Vertreter der Weltanschauungen inklusive der Kirchen aufgerufen sich massiv einzubringen, da sie sich als moralische Instanz verstehen. 
Gemäß dem Gemeinwohlatlas Deutschland, einer breit angelegten Umfrage zum gesellschaftlichen Nutzen großer Organisationen und Institutionen, genießen Diakonie und Caritas immer noch ein recht hohes Ansehen. Von 135 Institutionen nehmen sie Rang 10 beziehungsweise 14 ein. Während die evangelische Kirche immerhin auf Platz 18 liegt, schneidet die katholische Kirche auf Rang 101 auffallend schlecht ab. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zweifelsohne schlägt der Missbrauchsskandal zu Buche, aber auch Diskrepanzen zu gesellschaftlich anerkannten Werten wie Gleichberechtigung von Frauen, Anerkennung sexueller Vielfalt oder Partizipation, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit.
Die Bewertung der katholischen Kirche sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kirchen in unserer Gesellschaft immer noch eine wichtige Rolle spielen.
Fakt ist: Ohne die christlichen Wohlfahrtsverbände der Caritas und Diakonie, ohne die Kindertagesstätten und Kindergärten und ohne die Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime oder die vielfältigen Beratungsangebote in kirchlicher Trägerschaft ließe sich die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats nicht aufrechterhalten. Ein Ausfluss dessen, das sich der Staat aus diesen Aufgabenbereichen sträflich herausgezogen und dieses Feld dem Einflussbereich der Kirchen überlassen hat, die das von der Wiege bis zur Bahre auch gerne in Anspruch nehmen und damit so gut es geht ihre Schäflein beisammen halten.

Angesichts der anspruchsvollen Lage, in der wir uns befinden, lohnt es sich daher zu fragen: Was können insbesondere die Kirchen zur Bewältigung der immensen Herausforderung beitragen? Welche Angebote können die Kirchen der Politik machen, um ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen? Was benötigen Politik und Gesellschaft von den Kirchen?
Im Sinne einer unterstützenden Partnerschaft sollten die Kirchen gemeinsam mit Politik und den anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren an konkreten Lösungen für die Förderung des sozialen Zusammenhalts und des Gemeinwohls mitwirken. Eine solche gesellschaftliche Ausrichtung und ein damit verbundenes kirchliches Selbstverständnis würde so manche binnenkirchliche Priorisierungsdebatte irritieren, die sich angesichts unvermeidlicher Sparmaßnahmen auf ein vermeintlich pastorales Kerngeschäft fokussiert. 

Das Angebot einer unterstützenden Partnerschaft hätte aber auch Konsequenzen für die politischen Akteure und ihr Verhältnis zu den sich beteiligenden gesellschaftlichen Gruppen. Politik müsste ihnen als gesellschaftlichen Akteuren auf Augenhöhe begegnen und sie als Partner anerkennen, die Mitverantwortung für das Gemeinwohl übernehmen. 

Die gegenwärtige Zeitenwende bietet daher die Chance und die Notwendigkeit, das Verhältnis von Kirche und Politik zum Gemeinwohl neu auszurichten.
Die Kirchen sind nur eine von vielen Akteuren an dieser Aufgabe. Das sollte auch sichtbar werden.

Quellen:
(1) https://www.ktf.uni-bonn.de/studium-lehre
(2) https://www.lernen.net/artikel/moral-ethik-16726/