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Radikalisiert sich die Umweltszene und delegitimisiert sie sich dadurch selber?
(Rebecca Lessmann, KStA Green, vom 03.02.2023)

Manchmal ist es gut, die Perspektive zu wechseln, rauszuzoomen sozusagen, aus der aktuellen Situation. Jedenfalls dann, wenn die Emotionen hochkochen und eine Debatte allzu emotional geführt wird. Im Gespräch mit Daniel Mullis (er forscht am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung zu Protest) und bei der Recherche zur Protestgeschichte haben sich gleich mehrere neue Blickwinkel auf die aufgeladene Diskussion um die Klimabewegung aufgetan. Ein häufiges Argument gegen die Klebe- und Kartoffelbrei-Aktionen der „Letzten Generation“ lautet: Ein Großteil der Gesellschaft lehnt solche Protestformen ab, die Klimabewegung drohe deshalb, Sympathien zu verlieren. Der Protestforscher Daniel Mullis sieht das anders und setzt die Zustimmungswerte zur „Letzten Generation“ in eine interessante Relation: „Mir scheint, hier geht es doch auch um Versuche, den Klimaprotest zu delegitimieren“, sagt er. Denn der Protest genieße sehr wohl Rückhalt in der Bevölkerung.

„Im Deutschlandtrend vom Dezember 2022 haben 14 Prozent der Befragten gesagt, dass sie es legitim finden, Straßen und Verkehr zeitweise zu blockieren. Das ist natürlich bei weitem keine Mehrheit. Aber vergleicht man diesen Wert mit Wahlergebnissen, dann erreicht die Protestform der ‚Letzten Generation‘ höhere Zustimmungswerte als die FDP bei der Bundestagswahl 2021 Zweitstimmen bekommen hat.“
Den Grund für solche und weitere Delegetimierungsversuche sieht Mullis in den unterschiedlichen Vorstellungen der Klimagerechtigkeitsbewegung und der Konservativen, wie die Klimakrise zu lösen ist. Der Konflikt, sagt er, scheint sich auf die Frage zuzuspitzen: „Wird die Krise in einer Weise bearbeitet, dass jene, die heute schon privilegiert sind, ihre Privilegien behalten und damit die weniger Wohlhabenden, insbesondere im Globalen Süden, aber auch hier, die Zeche zahlen? Oder wird es eine globale und soziale Antwort auf diese Krise geben?“
Auf die Frage, ob sich die Klimabewegung gerade radikalisiere, hat Daniel Mullis eine klare Antwort: Ich sehe keine grundsätzliche Radikalisierung, weder in den Forderungen noch in der Praxis.
Es sei schließlich vielmehr so, dass die Protestierenden, ob bei „Fridays for Future“, bei der „Letzten Generation“ oder zuletzt in Lützerath, die Einhaltung eines Ziels forderten, das sich die Bundesrepublik staatlicherseits selber gesetzt habe: die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels. Da Deutschland dieses Ziel nach wie vor verfehlt, hätten die Klimaaktivistinnen und -aktivisten mit ihrer Kritik durchaus recht, betont der Protestforscher.
Interessant ist auch die historische Perspektive. Denn viele Debatten, die wir aktuell über die Klimabewegung insgesamt, und die „Letzte Generation“ im Speziellen, führen, sind so in der Vergangenheit schon viele Male geführt worden. Etwa die Frage, wie weit der zivile Ungehorsam gehen muss und wo seine Grenzen liegen. Rückblickend wissen wir: Die Protestierenden haben Rechte und Fortschritte erkämpft, die einst als unvorstellbar, gar unerhört galten – und von denen wir alle bis heute profitieren. Ob das Rosa Parks war, die im Bus einfach sitzen blieb, was heute als einer der zentralen Auslöser der US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung gilt, oder Emmeline Pankhurst, die einen Stein schmiss und einer der Gründe wurde, weshalb Frauen heute wählen dürfen.
Der Blick über den Tellerrand hilft also zu erkennen: Auch wenn Protest nerven kann, ist er schon oft am wirkungsvollsten gewesen, wenn er das besonders penetrant tut. Ein gutes Beispiel dafür sind auch die Gewerkschaften mit ihren Warnstreiks. Für die Klimabewegung kommt laut Daniel Mullis aber ein wichtiges Element hinzu. Denn bei ihrem Protest reicht es nicht aus, die Politik dazu zu bringen, strengere Klimaschutzmaßnahmen zu erlassen. Letztlich gehe es um eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Der Klimawandel wird – über kurz oder lang, ob wir wollen oder nicht – unser aller Leben betreffen. Das heißt, das Ringen der Klimabewegung ist auch ein unmittelbar gesellschaftliches Ringen und nicht nur ein politisches“, sagt Mullis und betont: „Wir befinden uns mitten in einem Epochenbruch. Womöglich begreifen wir die Tragweite der Transformation noch gar nicht ganz.“ Vergleichbar sei das Ausmaß mit dem Übergang vom Feudalismus zur Demokratie oder der Industrialisierung. Nur: was heute anders sei, das sei die Tatsache, dass die Veränderung dieses Mal nicht durch gesellschaftliche Innovationspotenziale ausgelöst werde, sondern durch eine quasi von Außen aufgezwungene Notwendigkeit: der Klimakrise. Wobei der Begriff äußerlich natürlich nicht ganz zutreffend ist, schließlich hat die Menschheit die Erderhitzung selber ausgelöst. Was helfen könne, sagt Daniel Mullis, sei eine gesamtgesellschaftliche Vision, wie wir gemeinsam die Zukunft gestalten und die Klimakrise lösen wollen. Beides ist eng miteinander verwoben. Doch eine solche Vision, die fehle derzeit.