Wir werden weniger
Depopulation der Weltbevölkerung
(Quelle: KStA vom 30.01.2025, von Harald Stutte (RND))
Laut jüngster Schätzung ist Deutschland dank Zuwanderung gewachsen – trotz enormer Übersterblichkeit. Global prophezeien Demografen aber den größten Bevölkerungsrückgang seit der Pest
Zunächst einmal die „gute“ Nachricht: Die Zahl der Einwohner in Deutschland ist im vergangenen Jahr gewachsen. Fast 83,6 Millionen Menschen lebten Ende 2024 in der Bundesrepublik und damit knapp 100.000 mehr als ein Jahr zuvor, so eine erste Schätzung des Statistischen Bundesamts am Donnerstag.
„Auch im Jahr 2024 war die Nettozuwanderung die alleinige Ursache des Bevölkerungswachstums“, erklärten die Statistiker und fügten hinzu: „Wie in allen Jahren seit der deutschen Vereinigung fiel die Bilanz der Geburten und Sterbefälle 2024 negativ aus, da erneut mehr Menschen starben als geboren wurden.“ Was bedeutet: 670.000 bis 690.000 Geburten in Deutschland, rund eine Million Menschen starben.
Unter der „Erhaltungslinie“
Mit einer Geburtenziffer von 1,35 Kindern je Frau liegt Deutschland weit unter der sogenannten Erhaltungslinie von 2,1, bei der die Bevölkerung einer Gesellschaft stabil bleibt. „Damit liegt Deutschland auch international relativ weit hinten“, sagt der Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es bedeutet, dass „jede Generation etwa ein Drittel kleiner ist als die Vorgängergeneration, dass also 100 Frauen 66 Töchter hinterlassen, dann 44 Enkelinnen und 30 Urenkelinnen“, so Klingholz.
Deutschlands Bevölkerungsentwicklung spiegelt einen globalen Trend wider. In einem viel beachteten Artikel für das Magazin „Foreign Affair“ (FA) hat der amerikanische Nationalökonom Nicholas Eberstadt jüngst ein dramatisches Bild eines „Zeitalters der Entvölkerung“ (The Age of Depopulation) gezeichnet, vor dem die Welt steht. Auch wenn unser Planet momentan 8.155.500.000 Menschen zählt – das Thema „Depopulation“ wird die Menschheit in Zukunft beschäftigen.
Denn mittlerweile verzeichnen mehr als 100 Länder Geburtenziffern von unter 2,1 Kindern je Frau. Weit über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in diesen Ländern, darunter Staaten wie Indien und China mit Milliardenbevölkerungen. In Europa bilden Spanien, Italien und Polen – hier kommen nur zwischen 1,2 und 1,3 Kinder je Frau zur Welt – die Schlusslichter. Noch dramatischer sieht es in den ostasiatischen Ländern Japan und China aus, wo die Zahl bei 1,3 respektive 1,1 liegt. In Südkorea, dem weltweiten Schlusslicht, beträgt sie sogar nur gut 0,7.
In Südasien unterschritt im Jahr 2021 Indiens viertgrößte Stadt Kolkata gemäß amtlicher Statistik die Geburtenziffer von einer Geburt pro Frau – weniger als in jeder größeren deutschen Stadt. Nepal und Sri Lanka unterschritten noch vor der Corona-Pandemie erstmals die „Erhaltungslinie“ von 2,1. Ähnlich sieht es in Lateinamerika und der Karibik mit durchschnittlich 1,8 Geburten pro Frau aus, Kuba meldete 2023 eine Geburtenziffer von knapp über 1,1 – in Chile waren es 2023 etwas mehr als 1,1 Geburten pro Frau.
Der globale Trend ist sogar in Nordafrika und dem Nahen Osten angekommen, obwohl der Islam lange Zeit als Garant für viele Kinder stand. In Istanbul lag die Geburtenziffer jüngst bei 1,2 – tiefer als in Berlin. Die russische Geburtenziffer fiel erstmals in den 1960er-Jahren unter die Marke von 2,1; seit dem Ende der Sowjetunion hat Russland de facto 17 Millionen durch Übersterblichkeit verloren. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die enorm hohe Dunkelziffer an im Krieg getöteten jungen Männer potenziert das Problem enorm.
Laut den Vereinten Nationen wurden bereits im Jahr 2015 weltweit nur halb so viele Geburten pro Frau verzeichnet wie 1965. Doch noch wächst die Weltbevölkerung insgesamt vor allem aufgrund der starken Geburtenziffern in Afrika südlich der Sahara mit ungefähr 4,3 Geburten pro Frau. Doch auch dort klopft der globale Trend bereits an die Tür. Südafrika als einziger Industriestaat der Region liegt nur noch ganz knapp über der Erhaltungslinie.
„Erstmals seit den Zeiten der Pest wird die Weltbevölkerung schrumpfen“, prophezeit daher Nicholas Eberstadt im „FA“-Artikel, „der globale Bevölkerungsrückgang scheint ausgemachte Sache zu sein.“ Auch der deutsche Bevölkerungsforscher Klingholz hält den Trend für „irreversibel“, denn „keines der erwähnten Länder, die deutlich unter eine Geburtenziffer von 2,1 gefallen sind, haben es je wieder geschafft, diesen Trend umzukehren“, so der Experte.
Klingholz verweist auf die „Theorie der säkularen Stagnation“ des amerikanischen Ökonomen Larry Summers, „der das Ende des Bevölkerungswachstums in den Industrie- und Schwellenländern als einen der Gründe für ein ausklingendes Wirtschaftswachstum“ sieht. Das sei keine konjunkturelle Krise, die sich mit herkömmlichen Maßnahmen (schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme) bekämpfen ließe, sondern eine strukturelle Krise – für das die Gesellschaft laut Klingholz momentan keine Antworten habe, „hier sehe ich ein Totalversagen der Volkswirtschaftler“.
Längere Leistungsfähigkeit
Klingholz’ Rezepte, um die Folgen schrumpfender Bevölkerungen zu minimieren: „Bessere Bildungsangebote und bessere Gesundheit, damit die Menschen länger leistungsfähig bleiben und später in den Ruhestand gehen. So zahlen die Menschen länger Steuern und Sozialabgaben, damit lässt sich einiges abfedern. Zudem brauchen wir eine Zuwanderung, die den Ansprüchen des Arbeitsmarktes entspricht.“ Nebeneffekt: Zuwanderer, auch jene, die den Arbeitsmarkt beleben, brächten aus ihren Heimatländern überwiegend ihre höheren Geburtenziffern mit, ehe sie sich dem neuen Heimatland anpassten. Damit lässt sich auch die für Industrienationen relativ hohe Geburtenziffer in den USA (1,6 Kinder pro Frau) erklären, obwohl es in den USA weder staatliche Unterstützung noch Betreuungsangebote gibt.
Längst befinden wir uns in einem „globalen Wettbewerb um qualifizierte Zuwanderer“, ist Klingholz überzeugt – „indische Softwarespezialisten gehen viel lieber ins Silicon Valley, nach Kanada oder Australien, schon wegen der englischen Sprache und auch, weil bei uns die bürokratischen Hürden viel höher sind“. Das sei natürlich längst in der deutschen Politik angekommen, doch in der Realität sei hier die deutsche Bürokratie zu schwerfällig, zu behäbig. „Zudem sind wir nicht gut genug, jene, die aus Not zu uns kommen, schnell zu integrieren“, kritisiert der Bevölkerungsforscher. Schließlich gebe es nicht nur einen Bedarf an Softwarespezialisten, sondern auch an gering Qualifizierten in der Pflege oder im Baubereich zum Beispiel.
Zukunftsmodelle, die sich diesen Herausforderungen stellen, müssen laut Klingholz traditionelle ökonomische Prinzipien überwinden: „Aktiengesellschaften, die quartalsweise ihre Zahlen präsentieren müssen, sind zu sehr einem nur wenig nachhaltigen Wachstum verpflichtet. Andere Körperschaften wie Stiftungen oder Familienunternehmen haben hier einen Vorteil. Zudem muss der Staat bei sinkenden Beschäftigungszahlen in der Wirtschaft überlegen, ob er durch die Besteuerung von Künstlicher Intelligenz und Industrierobotern neue Einnahmen generiert“, so der Wissenschaftler, der auf das „Stichwort Maschinensteuer“ verweist. „Wenn Maschinen unsere Arbeit übernehmen, diese aber keine Steuern zahlen, braucht der Staat eine neue Einnahmequelle.“
Für erstrebenswert und realisierbar hält der Bevölkerungsforscher eine Geburtenziffer in Höhe von 1,6 bis 1,8 Kindern pro Frau, so wie sie die europäischen Staaten Dänemark, Großbritannien oder Frankreich bis vor Kurzem erreicht haben. „Mit diesen Werten drohen keine dramatischen wirtschaftlichen Brüche, gleichzeitig würde sich aber im globalen Rahmen die Weltbevölkerung erstaunlich schnell verkleinern. Im Jahr 2300, also in gerade mal 275 Jahren, hätte der Planet weniger als drei Milliarden Bewohner, über fünf Milliarden weniger als heute. Sie wären besser gebildet, im Schnitt älter als heute und schon deshalb friedlicher. Und sie wären viel besser in der Lage, mit den massiven Umweltveränderungen klarzukommen, die wir heute verursachen“, so der Autor des Buches „ Zu viel für diese Welt. Wege aus der doppelten Überbevölkerung“ .
Rätselhafter Trend
Der globale Trend, Stichwort Depopulation, gibt in vielerlei Hinsicht Rätsel auf. Da seine Anfänge im Westen lagen, hielten viele Beobachter die niedrigeren Geburtenziffern einfach für die direkte Folge von „Verwestlichung“, Wohlstand und allgemeinen Fortschritt. Doch mittlerweile fallen selbst Länder unter die Erhaltungslinie, wo kaum Beschäftigung, schlechte Bildungsmöglichkeiten und eine geringe Urbanisierung zu finden sind. Neue Erklärungsmodelle verweisen daher auf den Rückgang der Kindersterblichkeit, den besseren Zugang zu Verhütungsmitteln, höhere Bildungs- und Alphabetisierungsraten, die Gleichberechtigung der Frauen und deren Beteiligung am Arbeitsmarkt als maßgebliche Faktoren für den globalen Rückgang der Geburtenziffern.
Bereits 1994 schien daher der amerikanische Ökonom Lant Pritchett die vielleicht nachvollziehbarste Erklärung für den globalen Trend des Geburtenrückgangs gefunden zu haben: Der entscheidende Faktor ist, was Frauen wollen.
Das Ende des Bevölkerungswachstums in den Industrie- und Schwellenländern ist einer der Gründe für ein ausklingendes Wirtschaftswachstum
(Reiner Klingholz, Bevölkerungsforscher)
