Gesellschaft

Gut oder Böse

Vieles, was ich in der letzten Zeit lese und höre, erinnern mich sehr an meine Kindheit, als mir meine Eltern einen ganz einfachen Leitfaden an die Hand gaben. Die Welt wurde in Gut und Böse eingeteilt. Menschen, Verhaltensweisen, Tiere u.v.m wurden auf diese Weise einsortiert. Der böse Wolf, der böse Onkel und sogar der böse Finger.

Einfache Erklärungen für komplizierte Sachverhalte. Für (noch) nicht so weit entwickelten Menschen sind das die Handlungsmuster, um in einer komplizierten Welt zurecht zu kommen.
Das muss einem doch bekannt vorkommen! Schönen Gruß von Höcke, Wagenknecht, Trump, Putin und wie sie alle heißen.
Manche Menschen scheinen solche Lebenshilfen zeitlebens zu brauchen, sonst würden diese Strategien kaum so gut verfangen.
Erwachsene Menschen mit etwas Interesse am wirklichen Leben sollten aber wissen, dass die Welt nicht so einfach eingerichtet ist!

Die Natur ist weder gut noch böse, sondern eine Abfolge von Aktionen und Reaktionen und regelmäßig darauf ausgerichtet die Art zu erhalten.
Ein Wolf ist nicht böse, weil er kuschelige Lämmer reißt. Der kleine Wolf wird lediglich durch seine Eltern und als Rudelangehöriger bestmöglich aufgezogen und mit überlebenswichtigen Strategien ausgestattet. Dazu gehört auch Fleisch zu fressen. Für unsere Moralvorstellungen (gut/böse oder süß/häßlich) gibt es da keinen Platz. Die Natur ist lediglich zielgerichtet auf das Überleben ausgerichtet.
Schafe haben so viele Nachkommen, dass der Riss von Wölfen verkraftet werden kann, ohne dass die Population zusammenbricht. Sollte es irgendwann mal doch der Fall sein, haben die Wölfe nicht genug zu fressen und deren Junge müssen verenden. In der nächsten Generation gibt es dann weniger Beutegreifer und die Population der Schafe kann sich erholen.
Nicht schön und nicht süß, aber alles im natürlichen Gleichgewicht.

Ebenso gibt es keinen Menschen, der gut oder böse geboren wurde. Wir sind alle Produkte unserer Veranlagungen und den Möglichkeiten, die uns die Eltern und das soziale Umfeld mitgegeben haben oder … eben nicht. Dazu kommt sukzessive die Summe unserer Erfahrungen.
Wir versuchen dann mit dem Werkzeug, das uns mitgegeben wurde, das Leben mit mehr oder weniger Erfolg zu meistern.

Im Laufe der Evolution des Menschen hat sich herausgestellt, dass das Überleben in einer sozialen und emphatischen Gemeinschaft, mit zum Teil altruistischen Verhaltensweisen, einen nennenswerten Überlebensvorteil darstellt. Menschen, die alleine nicht oder schlecht überlebensfähig sein würden, konnten als Mitglied der Gesellschaft immer noch wertvolle Beiträge leisten. Jeder konnte einmal hilfsbedürftig werden und konnte z.B. in der Erziehung der Kinder Aufgaben übernehmen, während die leistungsfähigen Gruppenmitgliedern dem Nahrungserwerb nachgingen. Damit war der Grundstein für die westlich geprägten Moralvorstellungen gelegt, nach denen menschliches Leben unbedingt schützenswert ist, egal ob es an für sich lebensfähig ist, oder einen wertvollen Beitrag zur Gesellschaft leistet.
Es war aber noch ein langer Weg von menschenverachtenden Regierungen und den oft noch wesentlich schlimmeren Religionen, die weltumspannend über Jahrhunderte bedenkenlos Millionen von Menschen ausbeuteten, verstümmelten, abschlachteten und psychisch vernichteten, bis zu einer humanen Gesellschaft, die sich der Tyrannei dieser blutrünstigen Despoten weitgehend entledigen konnte. Kaum ein Zeitalter und kein Kontinent blieb verschont. Der Kampf geht bis heute weiter, nur die Fronten und Waffen haben sich verändert.

Fataler Weise gilt aber auch bei unser Erziehungsleistung die „Gauß’sche Normalverteilung“, wonach nur einige eine Bestleistung abgeben, der Großteil einen mehr oder weniger guten Job macht und ein weiterer Teil der Erzieher und des sozialen Umfelds leider nicht geeignet sind, einem Heranwachsenden die notwendige Lebenshilfe zu geben.
Wenn die natürliche Selektion aber außer Kraft gesetzt ist, muss es eine andere Instanz geben, die diese Fehlleistungen weitgehend eliminiert. Anderenfalls nehmen diese irgendwann unbeherrschbare Formen an. Hier ist die Gesellschaft stark gefordert!

In der Vergangenheit fing das strikte moralisches Konzept der Religionen, Stände, der allgemeinen gesellschaftlichen Regeln u.v.m. einen Teil dieser Fehlleistungen auf. Dem konnte sich kaum jemand entziehen. Regelverstöße wurden zum Teil heftig sanktioniert. Dieses moralische Konzept ist in der westlichen Welt ab Mitte des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen entfallen.

Systemsprenger gab und gibt es aber immer. Sie können sich und ihren Bedürfnissen in unserer komplexen Gesellschaft nur schwer Geltung verschaffen. Sie lernen dann irgendwann, diese durch Umgehung der gesellschaftlichen Regeln durchzusetzen. Eine gesellschaftliche Akzeptanz bleibt ihnen aber meist weiterhin verwehrt, was ihre Ressentiments gegen die Angehörigen der „etablierten Gesellschaft“ verstärkt.

Und schon gibt es Gut und Böse. Abhängig davon welcher Seite man angehört, ist der jeweils Andere auf Grund seiner Handlungen oder sogar nur seiner Gruppenzugehörigkeit oder deren äußeren verbindenden Merkmalen böse und man selber der Gute. Der Eine hält einem die gesellschaftliche Anerkennung vor, der Andere sieht sich von „Verbrechern“ oder „Systemfeinden“ bedroht.
Alles ganz einfach. Man muss sich ja nicht mit den Gründen für Verhaltensweisen oder seinem eigenen oder dem gesellschaftlichen Versagen auseinandersetzen. Oder besser doch, wenn es nicht aus dem Ruder laufen soll und gesellschaftliche Sprengkraft erhalten soll?

Tatsächlich stoßen hier mehrere Problemkreise aufeinander, die sich gegenseitig negativ verstärken.
Hier eine Gesellschaft, die erwünschte Handlungsweise definiert hat, dort ein Mensch, der nicht genügend befähigt wurde sich mit diesen Anforderungen zu identifizieren und sich innerhalb derer zu bewegen und dann wieder eine Gesellschaft, die es nicht versteht diese Menschen an Eltern statt zu ertüchtigen.
Als wenn das noch nicht genug wäre, erreichen die gesellschaftlichen Erwartungen das prekäre Klientel oft gar nicht oder nicht nachdrücklich genug und die Sanktionen sind weder genügend resozialisierend noch abschreckend genug, um sich nicht daneben zu benehmen. Im Gegenteil man bildet Gruppen Gleichgesinnter, um gemeinsam stark zu sein. Die Gruppendynamik eskaliert die Situation weiter.
Alle gesellschaftlichen Bereiche sind betroffen. Ganz vorne weg mal wieder die Religionen, aber auch politische Parteien, Sportvereine, Clans, Familien, um nur einige zu nennen.

Es ist gar nicht mehr wichtig zu klären, ob Henne oder Ei zuerst da war. Wichtiger ist, dass der unselige Kreislauf unterbrochen werden muss und die Kategorien Böse und Gut aufgebrochen werden.
Wir müssen alle Menschen ertüchtigen am gesellschaftlichen Leben aktiv teilnehmen zu können und sich innerhalb deren Regeln zu bewegen. Auch wenn der Aufwand enorm ist. Andererseits muss eine pluralistische und demokratische Gesellschaft auch mit abweichenden Meinungen klar kommen und argumentativ begegnen. Niemand darf „kaltgestellt“ werden, weil er eine vom Mainstream abweichende Meinung vertritt, soweit sie gewaltfrei ist und dem grundlegenden Narrativ der betreffenden Gesellschaft entspricht. Man hat Anspruch auf eine wertschätzende Wahrnehmung. Wobei gesellschaftliche Narrative mit der Zeit im Konsens und im wertschätzenden Streit wandelbar sein müssen. Stillstand ist auch hier Rückschritt! Der evolutionäre Humanismus bietet da gute Ansätze.

Wer sich außerhalb der grundlegenden Narrative einer Gesellschaft stellt und seine gesellschaftlichen Verpflichtungen ablehnt, darf sich konsequenterweise nicht auf die Rechte eines pflichtbewussten Mitgliedes dieser Gesellschaft berufen. Er sollte sich eine andere Gesellschaft suchen, die seinen Anforderungen entspricht. Keiner sagt, dass das leicht umzusetzen ist. Aber es wäre konsequent.
Anderenfalls darf oder muss die Gesellschaft, je nach Bedeutung der Pflichtverletzung, Wohlverhalten einfordern und gegenteiliges Verhalten sogar scharf sanktionieren.

Man darf sich vorstellen, was bei Menschen wie Höcke, Trump, klerikalen Kinderschändern und den anderen „bösen“ Menschen alles schief gelaufen sein muss, um solche Verhaltensmuster auszubilden.
Sie sind eher moralisch retardiert als böse. Sie sind zum Teil hoch intelligent und bei der Durchsetzung ihrer Ziele zudem oft rücksichtslos. Manche haben das Zeug zum Agitator, andere nur zum Claqueur!
Jeder Mensch, der durch das gesellschaftliche Raster gefallen ist, ist einer zu viel und letztendlich ein potentieller Störer, der hohe gesellschaftliche Kosten verursacht.

Der größte Fehler, den eine Gesellschaft machen kann, ist Gut und Böse gelten zu lassen und sich nicht ernsthaft mit den Ursachen, den Protagonisten sowie deren Narrativen auseinanderzusetzen und keine Lösung für virulente gesellschaftliche Probleme anzubieten.
Sonst gibt es bald nur noch einfache Lösungen für komplizierte Lebenssachverhalte.

(U.a.: Michael Schmidt-Salomon, Jenseits von Gut und Böse)