Gesellschaft

Die Zahl der „Working Poor“ nimmt auch unter „Gutverdienenden“ zu

In den letzten Jahren nimmt die Anzahl der Menschen zu, die sogar trotz eines einigermaßen guten, regelmäßigen Arbeitseinkommens ihren Lebensunterhalt nicht mehr alleine finanzieren können.
Insbesondere in den führenden Metropolen Europas, selbst in der vermögenden Schweiz, mehren sich diese Fälle. Auch wenn ein recht hohes monatliches Einkommen zur Verfügung steht, wird dieses oft von den exorbitant hohen Lebenshaltungskosten bereits vor Monatsende aufgezehrt.
Es genügen einige wenige ungünstige Abzweigungen in der Vita und schon gehört man dazu. Dazu gehören auf jeden Fall Scheidungen, Krankheiten, alleinerziehend zu sein, ungünstige Arbeitsplatzentwicklungen und zunehmend auch Teil-/Arbeitsverluste durch KI.

Der Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Sozialpolitik und soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Carlo Knöpfel, hat sich im Interview mit der NZZ dazu geäußert.

Ist der Mittelstand tatsächlich breitflächig bedroht in prekäre Lebenssituationen abzurutschen?
Der Soziologe Ulrich Beck hat den Begriff des „sozialen Lifts“ eingeführt.
In der Boomergeneration Westeuropas sind weite Teile der Bevölkerung, auch aus der unteren Schicht, mit dem sozialen Lift aufgestiegen, zudem sind die Löhne schneller gestiegen als die Preise und es galt das Versprechen: Unseren Kindern soll es mal besser gehen als uns.
Zum Jahrhundertwechsel schwächte sich diese Entwicklung ab oder kehrte sich für manche sogar um. Aus dem Lift wurde ein Paternoster, der einen, wenn man oben angelangt war, auch wieder nach unten schaufeln konnte.
Viele Arbeitnehmer, auch aus der Mittelschicht, sind aber „nur“ aus dem sozialen Lift ausgestiegen und mussten sich mit dem Zufrieden geben, was sie erreicht hatten. Unglücklicher Weise sind die Preise aber stetig weiter gestiegen, was zu einem de-facto-Einkommensverlust geführt hat.

Das Gefühl der Bedrohung der Lebensgrundlage ist neu für die Mittelschicht und daher noch einmal wesentlich ängstigender! Neu ist auch, dass nicht nur nicht oder schlecht ausgebildete Arbeitskräfte abrutschen können, sondern sogar besser ausgebildete, durch den Einsatz von KI und die Auswirkungen des Homeoffice (Wenn man diese Tätigkeit von zu Hause aus erledigen kann, kann man das auch von Pakistan aus machen).
Insbesondere auch dann, wenn man eigentlich genügend verdient, aber die Zwangsabgaben exorbitant steigen. Zu den Zwangsabgaben gehören Miete, Mietnebenkosten, Sozialversicherungsabgaben, Lebensmittel usw.
Hat man dann keine Möglichkeit die Einnahmen zu steigern, oder fallen sogar Einnahmen weg, ist aus einer Bedrohung ein tatsächlicher Verlust an Lebensqualität geworden oder man ist sogar (relativ) Armutsbetroffen.

Armutsbetroffenheit kommt dann mit all seinen schädlichen Nebenwirkungen. Selbst wenn man, laut der offiziellen Statistik, nicht tatsächlich Armutsbetroffen, sondern lediglich von einer relativen Armut betroffen ist. Mangelndes Selbstwertgefühl, Ausgrenzungen, Schamgefühle, Wohnungsverlust usw. Drohende Umzüge in billigere Wohngebiete führen zu einer Entwurzelung und in Folge dessen zu Einsamkeitsrisiken und zur Stigmatisierung unter den Freunden, Bekannten und dem sozialen Umfeld.

Natürlich gibt es unter den Armutsbetroffenen Abstufungen. Den Menschen, denen noch nicht einmal das Lebensminimum zur Verfügung steht, mögen die Probleme der „Working Poor“ als Luxusproblem vorkommen, aber wie so oft sehen das die Betroffenen anders.