Gesellschaft und Politik

Toleranz
Toleranz ist ein wesentliches Merkmal eines jeden Gruppenselbstverständnisses, das darauf aufbaut, dass evolutionäre Änderungen wichtig oder sogar notwendig sind. Dabei muss dem Tolerierten ein gewisses Maß an Leidensfähigkeit abverlangt und dem Tolerierenden ein gehöriges Maß an Empathie zugemutet werden.

Überall sind Menschen mit ihren Rechten
(Quelle: unter anderem Gehirn & Geist, 01.23)

Einige Diskussionen der letzten Zeit haben mich veranlasst diesen Beitrag zu schreiben.
Dort und in fast allen sozialen Medien ereifern sich Influenzier, Sendungsbewusste und sonstige Teilnehmer über Vorkommnisse, Versäumnisse und vermeintliche Abgründe.
Es trifft Kleriker, m/w/d, Dicke, Dünne, Umweltfrevler, Umweltaktivisten, versagende Politiker, Staatsfeinde, die herumliegenden E-Scooter, verkehrswidrig abgestellte Autos, Fahrradrowdies, kläffende und kackende sowie nicht angeleinte Hunde usw.
Eines ist ihnen allen gemeinsam: Es sind Menschen mit ganz individuellen Interessen und Antrieben, die dahinter stehen und agieren. Oft mit Kalkül, aus irgendeiner festen (religiösen/moralischen/politischen) Überzeugung oder nicht selten genug ohne Überlegung. Man fühl sich dann von, vermeintlich irrenden, Anderen schnell gegängelt und fremdbestimmt.
Wer hat aber das Recht Menschen auf Grund ihrer Handlungen oder Meinungen zu diffamieren, ihr Tun zu diskriminieren oder sie an Ausübung ihrer Vorhaben zu behindern und wer muss das ertragen? Da gibt es eine ganze Palette von (vermeintlichen) Rechtfertigungen: Recht, Sitte, Moral, eigene Lebenseinstellung usw.
Aber es ist eines Recht zu haben und ein anderes dieses Recht auch auszuüben. Noch viel beschwerlicher wird es, wenn es zu der Thematik gar keine verbindliche Regelung gibt.
Und dann gibt es ja auch noch Rechtshierarchien und verschiedene Auslegungen.
Die Aufregerthemen sind mannigfaltig. Kleriker sollen in Ihre Tempel verbannt werden, E-Scooter sollen wieder aus dem Verkehr gezogen werden, Hundekacke soll aus der Umwelt gesammelt werden, Autos sollen aus dem Stadtbild verschwinden, man soll quere Lebensweisen annehmen, man soll vegan, vegetarisch und umweltbewusst leben usw.

Es sind aber nicht die Kirchen, E-Scooter, Autos, Quere, Hunde und Schnitzel die unseren Unmut erregen, sondern die Menschen und die Auswirkungen ihres Denkens und Handelns auf unser eigenes Leben und auf unsere eigenen moralischen/sozialen/politischen Vorstellungen, die uns aufbegehren lassen.
So ist es doch vollkommen egal, ob es z.B. E-Scooter gibt. Erst der Umstand, dass rücksichtslose Mitmenschen sie einfach daher schmeißen, sie in unmöglichen Ecken postieren, sie in den Rhein schmeißen und mit 20 Km/h durch Fußgängergruppen rauschen, birgt die Problematik für uns.
Genauso geht es mit den anderen Dingen, wenn Lebenseinstellungen, Weltanschauungen oder Meinungen aufeinander prallen. Es sind fast immer die handelnden Menschen, die dahinter stehen und damit nerven!
Spätestens wenn uns die Leitplanken der feststehenden Regelungen fehlen oder interpretationsfähig werden oder Weltanschauung, Moral oder Lebenseinstellung meinungs- und handlungsbildend werden, wird der Interessenausgleich in der Umsetzung schwierig. Fast jeder ist geneigt, seine Rechtsposition hoch einzuschätzen und sein Handeln nach seinen „legitimen“ Bedürfnissen ausrichtet sieht.

In der Theorie stellt es sich wesentlich einfacher dar, denn wir haben gar nicht so viele Möglichkeiten mit diesen Lebensumständen umzugehen:

  1. Wir können diese Menschen und/oder Dinge annehmen, sprich uns zueigen machen, weil sie uns als legitime Lebensinhalte begegnen. Der woke Mensch soll andere Lebensweisen in sein Leben einbinden, bejahen und befürworten und somit als Maßstab akzeptieren. Dann ist aber auch jede Infragestellung inakzeptabel, denn wie könnte etwas gut, aber nicht gewollt sein?
  2. Wir können sie aber auch mit einem liberalen Desinteresse (zeitweise) tolerieren, also neben unserer oder einer Mainstreamverhaltensweise oder -meinung laufen lassen, was aber stets mit einer gewissen Negativwertung an die Adresse des Tolerierten verknüpft ist.
  3. Wir können sie letztendlich ablehnen, was den Gegenüber direkt in eine gewisse Unrechtsposition drängt.

Alle drei Vorgehensweisen können bei einer stringenten Verfolgung in ein Dilemma führen.
Wenn man der ersten Möglichkeit zugeneigt wäre, müsste man auch Reichsbürger sowie andere autoritäre und selber ausgrenzende Menschen, z.B. mit Ihrem Gefühl der kulturellen Überforderung durch Migranten und dem mangelnden Verständnis des demokratischen Staates, für ihre eigene empfundene soziale Benachteiligung ernst nehmen, als Teil der Gesellschaft wertschätzen und in Entscheidungsprozesse kompromissbereit einbinden. Ebenso müsste man sich z.B. fragen lassen, warum man selber kein Veganer ist, wenn man diese Lebenseinstellung bejaht und befürwortet.
Wird der Mensch erst durch die Anerkennung seiner Mitmenschen zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft und eine Idee durch ihre Umsetzung zur tragenden Säule einer Gemeinschaft? Diese zu verweigern wäre dann eine Ungleichbehandlung von gleichem oder eine ungerechtfertigte Ausgrenzung und somit gesetzwidrig oder zumindest unmoralisch.

Will man ein Verhalten „lediglich“ tolerieren, also ein Verhalten, dass man de facto ablehnt, dulden anstatt es zu verbieten, stellt man den Handelnden und seinem Tun ins Unrecht und sich selber in die Position eines gönnerhaften Vertreters einer weltoffenen, pluralistischen Gesellschaft. Diese Position ist für den Tolerierenden generös, für den Handelnden hingegen unkomfortabel. Sie führt den Tolerierenden aber in ein Paradox, denn eine an und für sich ablehnungswürdige Verhaltensweise muss eigentlich zu einer Ablehnung und eine an und für sich akzeptable zu einer Anerkennung führen, wenn man ein Gesellschaftssystem auf logische und stringente Regeln aufbauen und selber nicht unglaubwürdig werden wollte. Das gilt auf jeden Fall für Dinge und Verhaltensweisen, die unserer Entscheidung unterliegen, im Gegensatz zu dem was unentscheidbar ist, wie Ethnie, sexuelle Orientierung usw.
Will man ein Verhalten ablehnen, stellt sich sofort die Frage nach der Legitimation. Hier bedarf es eines gesellschaftlichen Konsens in Form von Gesetzen oder anderen nachvollziehbaren Vereinbarungen. Aber selbst die Proklamation der Menschenrechte entspringt einer partizipiellen westlich geprägten Wertebestimmung. Es gab und gibt aber auch andere Gesellschaftsformen, die der Freiheit des Einzelnen ein wesentlich geringeres Gewicht zuerkennen. So gibt es Gesellschaften mit Kasteneinteilungen, mit gesellschaftlich akzeptierten Unterwerfungen von Volksgruppen und traditionell oder religiös begründeten Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit (z.B. Beschneidung). Die Ablehnung kann also nur im Rahmen der jeweiligen Bezugsgruppe und der dort anzuwendenden Rechte erfolgen.

Ich gehe davon aus, dass, entgegen der derzeitig oft propagierten Meinung, eine bedingungslose Anerkennung ein Irrweg ist, da diese mindestens an die jeweiligen Regeln der maßgeblichen Gesellschaft gebunden sein muss. Nicht zuletzt auch, weil eine darüber hinausgehende Anerkennung eigentlich nur von einer (vermeintlich) hierarchisch übergeordneten Institution gönnerhaft erfolgen kann.
Als Mitglieder der Hominiden, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir sehr stark von unserer Bezugsgruppe geprägt werden. Gruppe kann in der menschlichen Gesellschaft unterschiedlich ausgeprägt sein (Paar, Familie, Gemeinde, Land, Ethnie … bis zur gesamten Menschheit). Jede Gruppenbildung ist eine Abgrenzung des „Wir“ gegen die „Anderen“, woraus sich leider auch sehr schnell „Gut“ und „Schlecht“ entwickeln kann.
Jede Gruppe gibt sich Regeln für das gedeihliche Zusammenleben, welche einer hierarchischen Geltungsweise unterliegen, aber auch in Frage gestellt werden können und ggf. einer Anerkennung bedürfen. Diese Regelungen sind mitunter weit entfernt davon gerecht zu sein, beinhalten sie doch auch immer die Einbeziehung von Bekanntem und Ausgrenzung von Fremden. Dabei geben sie „lediglich“ den Zeitgeist von Moral, Sitte, Selbstverständnis und Recht der Gruppe wieder. Ein Zeitgeist ist nie statisch und unterliegt mit seinen Normen und Vorstellungen einem zeitlichen Wandel.

Das bedeutet für die hier aufgestellte Frage nach Anerkennung/Tolerierung/Ablehnung, dass es zunächst einer Normierung der unverzichtbaren Gruppenregeln bedarf. Diese Regeln dürfen nicht ohne gesellschaftlichen Konsens missachtet werden, solange sie Bestand haben. Hier gilt der Grundsatz: „love it“, „change it“ or „leave it“! Das mit dem“change it“ und vor allem mit dem „leave it“ ist nicht immer so einfach möglich, was dann zu revolutionären Zuständen führen kann.
Auf dem Weg zur Anerkennung kann es zu einem Tolerieren eines nicht regelkonformen, aber hinnehmbaren Zustandes kommen, der in einem gesellschaftlichen Prozess und meist im Laufe einer gewissen Zeit zu einer Anerkennung oder Ablehnung führen sollte (change it), welche dann für sich genommen jeweils wieder regelkonform sein müssen! Regelkonformität kann durch eine Regelanpassung oder -abschaffung oder einer Neuinterpretation einer bestehenden Regel hergestellt werden.
Bei nicht normierten Vorgängen, die nach Sitte, Anstand oder Meinung entschieden werden müssen, kann das o.a. Prinzip in entsprechender Ausformung ebenfalls angewendet werden.

Es zeigt sich also, dass die Toleranz ein wesentliches Merkmal eines jeden Gruppenselbstverständnisses ist, das darauf aufbaut, dass evolutionäre Änderungen wichtig oder sogar notwendig sind. Dabei muss dem Tolerierten ein gewisses Maß an Leidensfähigkeit abverlangt und dem Tolerierenden ein gehöriges Maß an Empathie zugemutet werden.
Toleranz fällt uns ohne Zweifel leichter, je näher ein Verhalten/ein Umstand unserem Rechtssystem ist, unseren Moralvorstellungen entgegenkommt oder unserer eigenen Einstellung zu diesen Dingen entspricht und desto eher können wir dieses Tolerieren dann einer Anerkennung zuführen. Anderenfalls droht es abgelehnt zu werden.
In totalitären Systemen gibt es kaum Toleranz, da Änderungen des Systems unerwünscht sind!
Das gilt zumindest für alle Änderungen des Status Quo, das bestehende Machtgefüge und dessen Profiteure benachteiligen würden. Machtzuwachs ist den Begünstigten natürlich immer willkommen.

Wie man sich auch immer entscheidet, das Leben verläuft im Rahmen der biologischen und geistigen Evolution in Wellenbewegungen. Es gibt im Idealfall keinen Stillstand.
Was gestern unvorstellbar war, ist heute alltäglich und morgen ggf. bereits von neuen Entwicklungen überrollt. Es gibt jederzeit Übertreibungen und unsägliche Verfehlungen. Vieles ist aktuell rechtmäßig, vertretbar oder sittlich/moralisch akzeptiert, was bei nachträglicher Betrachtung ein Irrweg oder gar Unrecht war.
Die Handlungen und Werte müssen aus dem Blickwinkel der Zeit und der Gruppe betrachtet und bewertet werden.