Rechts liegen lassen!
Über die Verantwortung der Medien.
Wir müssen mit allen reden – müssen wir das wirklich?
Menschenwürde vor Meinungsvielfalt!
Medien können den Rechtsruck verhindern,
Medien sind die Watchdogs der Demokratie!
(Quelle: Zeitschrift – Good Impact, #07/23)
Chassepierre ist ein kleiner Ort in der belgischen Region Walonie. Er liegt direkt an der Grenze zu Frankreich. Die Menschen von hüben und drüben kennen sich, man spricht und spielt zusammen.
Auf den ersten Blick trennt die Menschen wenig, aber die in Frankreich stimmen für eine rechtsextreme, die in Belgien für eine sozialistische Partei.
Wie kann das sein?
Die Politologin Leonie de Jonge ist sich sicher, dass das durch die unterschiedliche Berichterstattung in den Medien begünstigt wird.
In Deutschland würden laut Umfrage ZDF und Forsa mittlerweile ca. 21% der Wähler die AfD wählen.
Bis vor wenigen Jahren fanden ca 75% der Bevölkerung die AfD inakzeptabel. Heute sind es nur noch 47%.
Laut einigen Studien, so auch die der Otto Brenner Stiftung „Radikalisiert und etabliert“ geht es vielen Anhängern gar nicht mehr nur um Protest, sie stimmen mit den xenophoben und antieuropäischen Positionen der AfD überein und wollen eine andere politische Ordnung, als die auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Laut ARD-Deitschlandtrend von 09/2023 stimmen 80% der AfD-Wähler der Aussage zu: Es sei ihnen egal, dass die AfD in Teilen als rechtsextrem eingestuft wird, Hauptsache die angesprochenen Themen stimmten.
Innerhalb der AfD verschwinden die Berührungsängste zu den Rechtsextremen, so auch zu Björn Höcke. Der wird übrigens von der Medienwelt eifrig zu Interviews geladen. Dort schockt er mit Nazi-Jargon und fordert die Ausgrenzung von behinderten Kindern. Die AfD schließt sich neuerdings auch den Forderungen nach Remigration von Deutschen mit Migrationshintergrund an.
Alice Weidel lacht uns von etlichen Covern entgegen und genießt die wohlfeile Medienpräsenz, die ihr erlaubt ihre Statements abzugeben. So auch die Aussage im Stern, dass sie in der AfD noch keine Rechtsextreme entdeckt hätte. Dann der Höhepunkt, der Interviewer stellt die Frage, ob sie sich vorstellen könnte Kanzlerin zu werden.
Eine bessere Frage hätte man Alice Weidel nicht stellen können. Sie rückt damit in die erste Riege deutscher Politiker auf. So wertet man die Frau und ihre Partei auf, macht sie salonfähig, verharmlost und normalisiert sie.
Was will Frau AfD mehr, außer noch mehr so blöde Fragen von unfähigen Reportern!
Kritik an dieser Vorgehensweise wird immer mit dem Hinweis darauf abgewiesen, dass die Öffentlich Rechtlichen die Vielfalt und Chancengleichheit wahren müssen und wie beim Stern die Aussage: Wir müssen mit allen reden.
Sicherlich muss man mit diesen Menschen reden, sonst weiß man ja nicht wie man ihnen begegnen muss, aber muss man ihnen solche Vorlagen und Medienpräsenz bieten?
Die Spiegelredakteurin Ann-Katrin Müller kritisiert diese Vorgehensweise des Stern, denn Aussagen der AfD werden unreflektiert wiedergegeben und nicht in den Kontext einer rechtsextremen Partei gebracht, die unser politisches System abschaffen will. Sie sieht die Medien genauso in der Pflicht, wie die Politik und die Gesellschaft.
Medienschaffende müssen sich darüber im Klaren sein, dass der Informationskonsum in Zeiten des Internets oberflächlicher geworden ist. Man kann sich in der Flut der Berichterstattung kaum die Zeit nehmen Artikel ganz zu lesen und fühlt sich nach dem Konsum von Überschriften und Trailern gut informiert. Und … was wir immer wieder lesen und hören, glauben wir irgendwann wirklich!
Ein inhaltlich gut recherchiertes Format, dass die Menschenfeindlichkeit, die fehlende inhaltliche Kompetenz, Lügen und Wissenschaftsfeindlichkeit der AfD aufdeckt wird dann gar nicht mehr wahrgenommen und erreicht die potentiellen AfD-Wähler gar nicht mehr.
Hier setzt die Kritik an den Medien an. Sie befeuern mit der Medienpräsenz rechtsextremer Menschen und Meinungen eine „False Balance“. So auch die Sozialpsychologin Pia Lamberty im Medienpodcast Quoted. Wenn 99% der Wissenschaftler einer fundierten Meinung sind und lediglich 1% anderer Meinung sind, beide Parteien aber die gleiche Medienpräsenz erhalten, ist das öffentliche Meinungsbild bald verzerrt und Verschwörungsideologien machen sich breit.
Sichtbarkeit normalisiert.
Medienschaffende unterliegen einem großen Irrtum, wenn sie glauben die überhöhte Medienpräsenz in langen Gesprächen ausbalancieren zu können.
Bereits der Philosoph Karl Popper hat 1945 in seinem Buch „Die offene Gesellschaft“ festgestellt, dass „Uneingeschränkte Toleranz zum Verschwinden der Toleranz führt.“
Wird die Toleranz auf Intoleranz ausgedehnt, werden die Intoleranten die tolerante Gesellschaft vernichten.
Die AfD verschiebt den Diskurs mit jedem Tabubruch ein wenig nach rechts. Das Tauschgeschäft „Provokation gegen Publizität“ ist ein Win-Win-Geschäft für die Extremen und die Presse.
Der Politik- und Kommunikationsberater Johannes Hillje fast das wie folgt zusammen: Populisten bekommen Aufmerksamkeit, Medien steigern ihre Klicks und Auflagen. Schock sells!
Angefangen hat das alles mit dem Buch von Thilo Sarrazin, der vor Überfremdung warnte und damit einen unglaublichen Medienrummel losgetreten hat. Und jetzt … Im Oktober 2023 bezog sich Friedrich Merz auf die Inhalte dieses Buches, als es um die Gefahren des politischen Islams ging und im gleichen Monat zeigte der Spiegel einen grimmigen Olaf Scholz und zitierte ihn: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben!“
Die AfD-Rhetorik hat auch überall in den Medien und dem folgend im allgemeinen Sprachgebrauch Einzug gehalten. Man spricht überall schamlos von „Flüchtlingsstrom“, „Überfremdung“ und „Altparteien“. Die Anführungsstriche sind irgendwann sang- und klanglos entfallen.
Alexander Gauland bemerkte 2018 dazu, das die AfD versucht, die Grenzen des Sagbaren auszuweiten. Gelungen, herzlichen Glückwunsch, Herr Gauland!
Aber es geht auch anders, ein Blick ins benachbarte Ausland.
Leonie de Jonge hat in ihrem 2021 veröffentlichtem Buch The Success an Failure of Right-Wing Populist Parties in the Benelux Countries festgestellt, dass Rechtspopulisten es bisher nicht in die Parlamente der Walonie und Luxemburgs geschafft haben. In Flandern seien sie dagegen zweitstärkste Kraft und in den Niederlanden stellen sie die Regierung. Nach ihrer Untersuchung lag es nicht daran, dass es den Menschen in der Walonie wirtschaftlich besser geht. In der Walonie gibt es eine höhere Arbeitslosenrate als in den angrenzenden Gebieten. Es läge hauptsächlich daran, wie offen die Gatekeeper der Demokratie mit Rechtsextremen umgehen.
Nach ihrer Meinung tragen die Medien und etablierten Parteien eine erhebliche Mitschuld am Aufstieg der Französischen Front National und der Niederländischen PVV von Gerd Wilders.
In der Walonie haben dagegen bereits in den 1990er Jahren den Pakt „cordon sanitaire mediatique“ geschlossen. Demnach werden Menschen, die rassistischen oder demokratiefeindlichen Gruppen nahestehen keine öffentliche Plattform geboten. Einladungen zu Live-Interviews und Talkshows sind tabu! Der Belgische Staatsrat hat diese Vorgehensweise 1999 ausdrücklich gebilligt.
Natürlich werden diese Kräfte gehört, aber deren Aussagen werden explizit auf demokratiefeindliche Inhalte untersucht und diese auch ausdrücklich hervorgehoben und kontextualisiert, von Reportern zusammengefasst und von diesen wiedergegeben.
Leonie de Jonge lehrt Europäische Politik und Gesellschaft an der Universität Groningen.
Sie zitiert in ihrer Untersuchung einen walonischen Journalisten: „Wir Journalisten sind die Watchdogs der Demokratie. Unser Job ist es zu bellen und ggf. auch zu beißen! Das Land muss lebenswert bleiben. Das bedeutet, dass wir Radikales auch mal links und rechts liegen lassen müssen!“
Die deutschen Journalisten sollten sich daran ein Beispiel nehmen. Noch ist es nicht zu spät.
Für einen Pakt „cordon sanitair mediatique“ ist es aber leider schon zu spät, denn der wirkt nur, wenn sich radikale Gedanken noch nicht in die Gesellschaft gefressen haben.
Die Stoßrichtung der Berichterstattung muss sich ändern! Mehr inhaltliche Schärfe gegenüber Demagogen und ihrer Volksverdummung.
Die Vorhaben der AfD richten sich in weiten Teilen gegen die eigene Wählerschaft, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im August 2023 zeigte. Der neoliberale Ansatz der AfD, mit Kürzungen im Bürgergeld und Mindestlohn ist den meisten Wählern nicht in der Konsequenz bewusst.
Darüber hinaus müssen rote Linien gezogen werden, was gesagt und was dann gesendet oder anderweitig veröffentlicht wird. Wenn Alexander Gauland z.B. im ZDF-Sommerinterview live und ungehindert von sich geben kann, dass „Hitler und Nazis lediglich ein Vogelschiss in der Geschichte Deutschlands sind!“, ist so die rote Linie weit überschritten.
Am Ende besteht eine Demokratie eben nicht nur aus politischen Vertretern und Meinungen, sondern aus Werten und Menschenrechten, auf die sich die Gesellschaft geeinigt hat.
Viele US-Journalisten sagen heute, dass sie das nach dem Wahlsieg von Donald Trump viel zu spät realisiert hätten. Den US-Wählern werden noch die Augen aufgehen, wenn Trump erneut an die Macht gelangen sollte.
Der richtige Zeitpunkt das Handeln der Medienschaffenden neu auszurichten war gestern, aber auch jetzt!
